Als neues Mitglied für unsere Tochter N. (9 Jahre alt, OCA 2) möchte ich allen Initiatoren dieser Selbsthilfegruppe für ihren Einsatz danken. Hierdurch einen Ansprechpartner zu haben, hätte uns vor 9 Jahren sehr geholfen.
Jeder Lebenslauf von betroffenen Personen ist es wert, gelesen zu werden und etwas für sich selbst daraus zu lernen oder seinem Kind als Hilfestellung mitzugeben. Deshalb hoffe ich, mit unserer Geschichte auch einen Teil dazu beizutragen und allen Eltern mit jüngeren Kindern Mut zu machen.
Auch wir haben in der M. Uniklinik die komplette Dramaturgie an Untersuchungen zur Diagnosestellung erlebt. Ich möchte nicht im Einzelnen darauf eingehen, da der damalige Termin uns heute noch wie ein echter Alptraum vorkommt. Das arrogante und teilweise inkompetente Verhalten der Ärzte dort, sowie ihre Art, sich wie ein „Geier“ auf ein „exotisches Kind“ zu stürzen und (ich zitiere!: „endlich einmal ein richtiges Studienexemplar in der Klinik zu haben“), ist wohl kaum zu überbieten. Als wir nach einem ganzen Tag mit traumatischen Untersuchungen für unser 6 Wochen altes Baby nach Hause kamen, mußten wir erst einmal unser eigenes Gefühlschaos sortieren.
- Wir hatten die folgende Diagnose der Augenklinik nach einer furchtbaren Untersuchung erhalten. Die Chancen für unsere Tochter stünden ziemlich schlecht, wir müssten uns halt damit abfinden. Völlig blind schien sie nicht zu sein, wir müssten aber mit einer Sehfähigkeit von höchstens 10% rechnen. Da es sich um einen genetischen Defekt handele, müssten weitere organische Mißbildungen durch zusätzliche Untersuchungen ausgeschlossen werden.
- Nun ging es weiter zur Radiologie, um eine Fehlbildung des Gehirns auszuschließen.
- Nächste Station war die Kinderambulanz. Es folgten verschiedene Blutuntersuchungen. Der völlig deplazierte Kinderarzt dort war der Meinung, unser Kind so schnell wie möglich auf weitere organische Mißbildungen untersuchen zu müssen, was einen 4-wöchigen Krankenhausaufenthalt zur Folge hätte. Außerdem stellte er einen angeblichen Schiefhals fest und beschimpfte unsere Kinderärztin, dies nicht schon längst erkannt zu haben. Bis zur Klinikeinweisung sollten wir sofort mit einer Vojta-Therapie beginnen.
- Zum Schluß wurden wir in den EEG-Raum geschoben. Hier wurde durch eine spezielle Untersuchung völlige Blindheit ausgeschlossen. Eine weitere Ableitung diente dazu zu prüfen, ob vom Auge Informationen zum Gehirn weitergeleitet wurden. Da dies der Fall war, haben wir eine weitere Untersuchung mit Anästhesie abgelehnt und konnten endlich nach Hause fahren.
So fing alles an:
Schon in N`s. 2. Lebenswoche waren meinem Mann und meiner Schwiegermutter nicht entgangen, dass N. ihre Umwelt nicht erkennen kann. Sie reagierte nur auf Stimmen. Ich selbst wollte dies überhaupt nicht wahrhaben und meine Kinderärztin deutete den starken Pendelnystagmus anfangs als Geburtsfolge (Sauerstoffmangel, Not-Sectio, etc.). Mit jeder weiteren Lebenswoche wurde auch mir klar, dass unser Kind viel zu verkrampft und verspannt war. Wenn überhaupt Reaktionen auftraten, dann nur ganz verzögert. Die U3 (4. Lebenswoche) war aber immer noch ohne Beanstandung. Sehbehinderung mit Albinismus hatte unsere Kinderärztin noch nie selbst gesehen, Nystagmus als Geburtsfolge war ihr aber bekannt. Ich sollte mich nicht beunruhigen und dem Säugling noch Zeit geben.
In der 5. Lebenswoche hatte ich ein Treffen mit Müttern gleichaltriger Babys und somit eine gute Vergleichsmöglichkeit. Meine Tochter war das einzige Kind, das nicht vor Freude strampelte und quietschte, nach keinem Spielzeug griff und schon gar nicht danach suchte. An diesem Tag wurde mir völlig klar: N. wird durch irgendeinen Grund in ihrer Entwicklung stark behindert. Was auch immer Auslöser für den Nystagmus war, es musste etwas mit der ständigen Verkrampfung zu tun haben. Noch am nächsten Tag habe ich meine Kinderärztin gebeten, der Sache auf den Grund zu gehen und so landeten wir in der Uni-Klinik M.
Den o.g. Klinikaufenthalt hatten wir abgelehnt. Der Schiefhals war eine totale Fehldiagnose, unsere Kinderärztin war aber dennoch sehr überzeugt von der Vojta-Therapie und hatte uns sofort (in erster Linie wegen der Verkrampfungen) überwiesen.
Schon am nächsten Tag hatten wir glücklicherweise unsere 1. Sitzung. Die Therapeutin war ziemlich entsetzt über N`s. Entwicklungsrückstand; sie befand sich mit ihren 6 Wochen auf dem Stand eines 2 Wochen alten Säuglings. Es lag hier trotzdem kein Fehler der Kinderärztin vor (unsere Therapeutin hat mir dies mehrfach versichert), denn die kurze Zeit und Beobachtungsmöglichkeit bei den Vorsorgeuntersuchungen sind gerade für die ersten Lebenswochen lediglich grobe Maßstäbe. In dieser Zeit gebe es viel Spielraum für Fehlinterpretationen. Die wichtigste Aussagekraft liege deshalb bei den Personen, die täglich mit dem betroffenen Kind zu tun haben, in der Regel die Eltern.
Ich beschreibe dies deshalb so ausführlich, da die kommenden Wochen zu einer radikalen Änderung beigetragen haben und wir davon überzeugt sind, ohne die Vojta-Therapie hätte unsere Tochter diesen Entwicklungsrückstand mit all seinen Folgen in der Lernphase der Wahrnehmung etc. niemals wirklich aufgeholt.
Wir wurden aber darüber aufgeklärt, dass diese Therapie kein Spaziergang sei. Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie im Säuglingsalter ist ihre konsequente Durchführung viermal täglich. Dies gilt auch an Tagen wie Ostern, Weihnachten, Besuche bei Freunden, einfach immer. Der Therapeut ist für den individuellen Aufbau und die Dosierung der Vojta-Therapie sowie für die Anleitung und Betreuung der Eltern verantwortlich.
Die erste Sitzung wurde zu Hause gleich weitergeführt und von diesem Augenblick an standen wir mit der Therapie morgens auf und gingen mit ihr abends wieder ins Bett. Als wir unseren nächsten wöchentlichen Termin wahrnahmen, konnte unsere Therapeutin überhaupt nicht glauben, was sie sah. Unser Kind zeigte nach dieser kurzen Zeit schon erste Reaktionen, die nur 1 Woche vorher völlig undenkbar waren. Die größte Überraschung aber war, dass sich die Geschwindigkeit des Pendelnystagmus um etwa die Hälfte reduziert hatte (laut Aussage unserer Therapeutin). Die Augen waren wesentlich ruhiger, die Verspannungen nicht mehr so gravierend. Zitat unserer Therapeutin: „Dies ist ein völlig anderes Kind als vor einer Woche.“
Unsere Parole war: Niemals aufgeben! Denn die Versuchung aufzugeben, war groß.
Der Erfolg aber war so überwältigend, dass N. ihren Entwicklungsrückstand schon nach relativ kurzer Zeit komplett aufholen konnte.
Unter den aufgezählten Wirkungen beim Behandlungsprinzip der Vojta-Therapie ist auch die Verbesserung der Augenbewegung, z. B. Nystagmus, Strabismus, erwähnt. Trotzdem waren viele Ärzte über diese Wirkung bei N. sehr überrascht, denn jedes Mal suchten sie nach vorhandener Spastik, die nicht zu erkennen war. Sogar der Professor in der H. Uniklinik (hier erlebten wir übrigens ein sehr nettes Klima) ließ sich unsere Geschichte mehrfach erzählen. Obwohl der Albinismus immer mit Nystagmus verbunden ist, war ihm die Anwendung der Vojta-Therapie völlig unbekannt und er teilte uns mit, dass sie fast ausschließlich bei Kindern mit Spastik angewandt wird. N. war zu diesem Zeitpunkt 9 Monate alt.
Solche überraschenden Reaktionen erleben wir heute noch. Obwohl bei uns der pure Zufall zu dieser Therapie geführt hat, sind wir fest von dieser Wirkung überzeugt. Dies wurde uns auch von allen Seiten mehrfach bestätigt.
6 Monate haben wir gemeinsam diesen Streß durchgehalten. Das Gröbste war aber zum Glück geschafft, doch habe ich nochmals 6 Monate mit der Bobath-Terapie (hier wird sehr viel spielerisch mit dem Kind gearbeitet) alleine weitergemacht.
Mit 7 Wochen bekam N. ihre erste Sonnenbrille. Bei einem Baby sieht das wirklich komisch aus und ich bin sogar mehrfach mitten auf der Straße von Passanten über dieses angeblich unsinnige Verhalten beschimpft worden, einem Baby eine Sonnenbrille zu verpassen.
Zeitgleich besuchte uns eine Sozialpädagogin der Frühförderung (Landeswohlfahrtsverband), im ersten Jahr alle zwei Wochen, anschließend bis zum 5. Lebensjahr alle 4 Wochen. Dies waren die wertvollsten Jahre überhaupt, denn es gab viel im Umgang mit unserem sehbehinderten Kind zu lernen. Trotzdem bekamen wir immer die Aufforderung, N. dies auf keinen Fall anmerken zu lassen. Es war eine echte Gratwanderung. Ich erinnere mich an all die Spielplatzbesuche. Wo sich andere Kinder freuen, im Sand zu buddeln und über hohes Wiesengras zu rennen, müssen unsere Kinder erst einmal lernen, mit diesem Medium vertraut umzugehen.
Wie haben denn andere Eltern diese Situation erlebt ?
Als N. 2 ½ Jahre alt war, habe ich mit ihr alle 6 Monate einen Entwicklungstest durchführen lassen. Der Kinderarzt gab mir Recht, dass bei einer solchen Vorgeschichte die Abstände der Vorsorgeuntersuchungen zu weit auseinander liegen. Außerdem war es uns ungeheuer wichtig, dass N. keinen Sonderkindergarten besucht. Inzwischen waren sowohl der Kinderarzt als auch der Augenarzt zu 80% davon überzeugt, dies sei durchaus möglich. Wir wurden aber laufend darauf hingewiesen, sie gut zu beobachten und nicht zu überfordern und auch notfalls unsere Entscheidung zu überdenken.
Mit genau 3 Jahren bekam sie einen Kindergartenplatz (durch unseren Zuzug nach W. war dies ohnehin sehr schwierig und deshalb waren wir sehr froh darüber). Inzwischen hatte N. eine zweite Brille. Auf zwei so teure Gegenstände aufzupassen, ist für ein Kind in diesem Alter wirklich sehr viel verlangt. Die ersten 6 Monate waren in jeder Hinsicht extrem schwierig. Die Orientierung in großen Räumen mit so vielen Kindern war anfangs sehr schwierig. Dies galt auch für den großen Garten. Diese Situation hat sie sehr verunsichert und zeigte sich auch in ihrem Verhalten. Beim Turnen musste man N. viel Zeit geben, denn das Balancieren oder Springen schon von einer niedrigen Bank war für sie keineswegs einfach. Große Räume, sehr laute Geräusche (N. hörte wesentlich besser als andere Kinder), Bastelarbeiten etc. waren anfangs echter Streß für sie. Mit Hilfe einer ganz besonderen Erzieherin aber, die sich in den ersten Monaten nicht immer sicher sein konnte, ob N. dort richtig aufgehoben war, hat sie diese Hürde gemeistert. Bei diesen großen Kindergartengruppen heutzutage war dies eine echte Verantwortung für alle Beteiligten. N. bekam dort aber auch die große Chance, sich von Anfang an alleine einen Weg in der Gemeinschaft mit den anderen Kindern zu suchen. Sie hatte keine zusätzliche Betreuung und war somit ein Kind von vielen. Dass sie von ihrer Erzieherin viel genauer beobachtet wurde, war natürlich nicht zu übersehen. Auch wurde von allen Betreuern im Kindergarten sehr sorgfältig auf ihre Brillen für drinnen und draußen geachtet. Irgendwann aber hatte sich alles so eingespielt, dass N. nur noch durch ihre dunkle Sonnenbrille auffiel. Ihre Verhaltensauffälligkeiten waren nach etwa 9 Monaten völlig verschwunden, sie nahm an allen Aktivitäten plötzlich selbstverständlich teil und jeder Tag dort war eine echte Herausforderung. Eine gute Zusammenarbeit zwischen der Erzieherin und den Eltern ist hier natürlich Voraussetzung.
Resumee: N. war zwar in den ersten Monaten sehr anstrengend, hatte sich dann aber zu einem der unproblematischsten Kindergartenkinder überhaupt entwickelt.
Ernsthafte Probleme bereiteten der Erzieherin inzwischen die Kinder, die schon mit Verhaltensauffälligkeiten im Kindergarten aufgenommen wurden (Sprachprobleme, familiäre Probleme etc). Diese Kinder werden oftmals während ihrer 3 – 4 Jahren Kindergarten für die gesamte Gruppe zu einer Belastung und deren Eltern lehnen auch gemeinsame Entscheidungen mit der Erzieherin häufig ab. Bei solchen Kindern wird aber gar nicht erst zur Diskussion gestellt, sie aus der Einrichtung herauszunehmen.
Nach 2 Jahren Kindergarten in W. mussten wir leider umziehen.
Die neue Einrichtung in P. stellte sich nach einigen Wochen mit deren Mitarbeitern und ihrer Leiterin als völlig unzureichend heraus. Inzwischen aber waren mein Mann und ich soweit fortgeschritten, dass wir einige Verhaltensmaßnahmen von Seiten der Erzieher gefordert haben. Man war z.B. dort nicht in der Lage, N. einen Bastelplatz anzubieten, ohne zu stark von der Sonne geblendet zu werden. N. quittierte dies natürlich mit Bastelverweigerung (sie hatte sich anfangs nicht getraut, hier etwas zu sagen), worauf die Erzieherin der Meinung war, ich sollte eine Erziehungsberatung in Anspruch nehmen. Es gab viele uneinsichtige Diskussionen mit der Erzieherin, ich konnte mich aber doch durchsetzen. Wäre N. jünger gewesen, hätten wir den Kindergarten gewechselt. Wir wollten ihr aber nicht noch eine weitere neue Gruppe zumuten.
Sie war 5 Jahre alt und besuchte somit nach 2 Jahren W. Kindergarten hier noch einmal einen Kindergarten für fast 2 Jahre.
Nicht jeder Kindergarten hat interessierte und aufgeschlossene Erzieherinnen, denn bei solchen Kindern ist ihre Tätigkeit oft mit Mehrarbeit und Eigeninitiative verbunden. Es gibt sie, wir haben es selbst erlebt, man wird sie aber unter Umständen suchen müssen. Es lohnt sich, denn hier wird ein wichtiger Grundstein gelegt.
Die Schule war von Anfang an überhaupt kein Problem. N. ist sogar eine der besten Schülerinnen. Die Lehrerin ist eine sehr interessierte und aufgeschlossene Person. Sie hat sich sogar die Sendung von Alfred Biolek angesehen (hier hörte ich zum ersten Mal den Namen „NOAH“).
Inzwischen bekam N., sie besucht bereits die 3. Klasse, von Fr. Dr. K. ein Okular und eine Lesebrille verordnet. Von der 3. Klasse an wird dies notwendig, denn die Schriften in allen Büchern werden zunehmend kleiner. Mit der Lesebrille für die Schule, einer Lupe für zu Hause und dem Okular für Schule und Freizeit kommt sie super zurecht. Das Okular ist für sie bei Ausflügen zu einer echten Verbesserung der Lebensqualität geworden.
In der Freizeit geht N. schwimmen, fährt Fahrrad und Inliner. Außerdem verschlingt sie jedes Buch, das sie in die Finger bekommt. Leichtathletik ist in der Halle kein Problem, auf Außenplätzen wird sie immer irgendwie geblendet und leider auch von älteren Kindern wegen der dunklen Brille und der Kappe oft ausgelacht. Dass sie hier keine Motivation mehr hat, braucht man sicher nicht näher zu erläutern.
Fahrrad und Inliner fahren ist bei Sonne nur mit dunkler Brille und Kappe möglich (jedenfalls bei ihr). Wie und was sie hier sieht, kann ich persönlich nicht beurteilen. Sie selbst fühlt sich aber sicher und reagiert viel auf Geräusche. Alleine darf sie im Straßenverkehr aber nicht fahren! Bei Dunkelheit ist diese Aktivität zu gefährlich.
Das Schwimmen war anfangs auch schwierig. Im Hallenbad kann sie sich inzwischen prima orientieren. Unter Wasser sieht sie kaum etwas. Sie trägt aber eine normale Schwimmbrille, die ihr etwas Sicherheit gibt (so N`s. Aussage). Problematischer sind hier Freibäder. Sie trägt immer (!) ein T-Shirt, ihre dunkle Sonnenbrille und ihre Kappe. Da sie mit dieser Verkleidung für Hänseleien sorgt, sind diese Ausflüge entsprechend selten. Es ist ihr aber auch zu lästig.
Den Schulweg ist sie schon im 1. Schuljahr alleine gegangen. Für uns war dies eine echte Überwindung, sie wollte es aber unbedingt. Ein mulmiges Gefühl haben wir wegen ihrer Sehgeschichte jeden Tag, N. beweist aber, dass es funktionieren kann.
Auch wir sind davon überzeugt, dass ein Kind mit Albinismus grundsätzlich einen Regelkindergarten sowie eine Regelschule besuchen kann.
S.N. 2000