Ich bin inzwischen 68 Jahre und habe mein Arbeitsleben hinter mir. Die Probleme haben nicht aufgehört, aber es ist doch um einiges leichter geworden. Es war oft sehr anstrengend bisweilen auch sehr schwierig, und immer lag ein gewisser Schatten darüber. Im Nachhinein sieht man alles etwas lockerer und merkt natürlich auch, dass der Albinismus nicht an allem Schuld war, aber auch manche Situation wurde durch ihn verschärft, und mancher natürliche Wesenszug verstärkt und belastender. Es kommen eben immer mehrere Dinge zusammen.
Über meine Kindheit bis zum Schuleintritt kann ich wenig sagen. Ich habe den normalen Kindergarten besucht, ich habe mit anderen Kindern der Nachbarschaft gespielt und war mit ihnen in Wald und Flur unterwegs. Als Außenseiter habe ich mich nie gefühlt. Dies änderte sich bei Schuleintritt ein wenig. Ich besuchte die normale Grundschule und wechselte nach 4 Jahren auf die Oberschule, heute Gymnasium und erreichte fristgerecht die Mittlere Reife. Außer einer Brille hatte ich keinerlei Hilfsmittel. Später kam dann noch eine Lupe mit 6-facher Vergrößerung dazu. Vergrößerte Vorlagen gab es nicht, auch hatte ich keine längere Zeit bei Klassenarbeiten und bei Prüfungen. Allerdings durfte ich jederzeit an die Tafel gehen. Meine Lehrer haben sicher in gewissem Umfang Rücksicht walten lassen, ohne dass ich das groß gemerkt hätte. Unter meinen Schulkameraden war ich immer anerkannt, obwohl ich durchaus erheblichen Hohn und Spott ertragen musste, andererseits haben sie mir auch immer geholfen, wenn es notwendig war. Natürlich war ich immer bei jedem Streich dabei, der Nachteil war nur, dass ich immer erkannt wurde.
Der Schulwechsel hat es mit sich gebracht, dass ich da Rad fahren lernen musste und mich auch schnell zu einem wilden Radfahrer entwickelte. Ich habe mehrere Stürze hinter mich gebracht, erfreulicherweise ohne jede ernsthafte Verletzung. Oft habe ich mehrtägige Gruppenradtouren geleitet. Strecke und Ziel habe ich vorgegeben und dann den Beteiligten gesagt: „Den Weg müsst ihr suchen“, da ich ja keine Wegzeiger und sonstige Hinweisschilder lesen konnte. Aber es ging immer alles gut.
Für den sportlichen Bereich habe ich mich nie sonderlich interessiert, wobei ich nicht weiß, ob dies die Folge des Albinismus war; immerhin habe ich als Schüler sehr schnell erkannt, dass ich bei Ballspielen und anderen Sportarten, die mit Entfernung und Erkennen zu tun haben, eben doch nicht so richtig mithalten konnte und bei Mannschaftsspielen für meine Mannschaft eher eine Behinderung war.
Mit Erreichen der Mittleren Reife war nun also auch die Schulzeit zu Ende und damit auch trotz mancher Widrigkeiten relativ unbeschwerter Lebensabschnitt. Jetzt bei der Lehrstellensuche, die 1950 ohnehin noch nicht einfach war, merkte ich, dass meine Situation doch sehr problematisch war. Während der Schulzeit habe ich das so nicht wahrgenommen. Hinzu kam, dass ich auch beim Arbeitsamt keinerlei sachgerechte Beratung fand, und auch sonst keine Stelle wusste. Auch kannte ich niemand mit gleichen Problemen, außer meiner 10 Jahre älteren Schwester. Und dies blieb auch so bis ich 1996, bis ich auf NOAH gestoßen bin.
Nach vielen Absagen, wobei ich nur von einigen wenigen konkret weiß, dass die Sehbehinderung der Grund für die Absage war, habe ich dann eine Lehrstelle in einem kleinen Familienbetrieb des Textilgroß- und einzelhandels gefunden. Die Lehrzeit war dadurch einigermaßen problemlos. Der Chef konnte mich allerdings nach der Lehrzeit nicht übernehmen. Der Kleinbetrieb hatte allerdings den Nachteil, dass ich selbst nicht abschätzen konnte, welche Tätigkeiten ich als Kaufmann in einem größeren Betrieb im Büro problemlos ausführen konnte. Dies führte dazu, dass die erste Stelle eine Enttäuschung wurde. Auf Veranlassung des Arbeitsamtes hat man mich dann mit Schwerbehinderten „gleichgestellt“, mehr war damals nicht möglich, und so bekam ich eine Anstellung in einem großen Textilhaus. Nicht im Verkauf, denn das hielt ich für mich nicht möglich, sondern hinter den Kulissen. Eine durchaus interessante und vielseitige Tätigkeit, die mir auch Spaß machte, und die ich auch fünf Jahre gemacht habe. Im Laufe der Zeit erkannte ich jedoch, dass es auf dieser Stelle kein Vorwärtskommen gab, und so versuchte ich nochmals mein Glück durch Stellenwechsel, aber ohne wesentlichen Erfolg. Inzwischen hatte sich bei mir die Einsicht durchgesetzt, dass das Kaufmännische doch nicht mein Metier ist, und so überlegte ich, was ich beruflich tun könnte. Da ich schon immer in der evang. Jugend beheimatet war, hatte ich die Gelegenheit, meine Problematik mit erfahrenen Freunden zu diskutieren, und unter Berücksichtigung meiner langjährigen Erfahrung als Mitarbeiter habe ich mich dann entschieden Sozialarbeit zu studieren.
Dass damit die Probleme aufhören oder kleiner würden, war ein Trugschluß. Die damalige Direktorin der Höheren Fachschule für Sozialarbeit wollte mich nicht an die Schule lassen, mit dem Argument, dass ich infolge meiner Sehbehinderung doch große Schwierigkeiten haben würde im Umgang mit den Menschen. Ich habe das damals nicht verstanden. Über Beziehungen habe ich meine Aufnahme dann doch noch durchgesetzt. Allerdings musste ich noch ein Jahr überbrücken, und das tat ich als Hilfsarbeiter in einem Metallbetrieb. Mit der Arbeit hatte ich tatsächlich keine Probleme, aber das Umfeld. Ich saß am Band in der Endkontrolle, auf beiden Seiten riesige Fenster. Wenn ich nach rechts oder links aufblickte sah ich nur dunkle Gestalten und Silhouetten. Das war sehr belastend. Ich war froh, dass ich diesen Arbeitsplatz nach 9 Monaten wieder verlassen konnte.
Abgesehen von den Schulproblemen wie in früheren Zeiten verlief das 3-jährige Studium ohne Schwierigkeiten. Mit den Mitstudierenden hatte ich schnell gute Beziehungen, so dass mir alle notwendige Hilfe zuteil wurde. Als Hilfsmittel hatte ich immer noch nur meine Brille und Lupe. Im Kreis der Studierenden war ich voll anerkannt und wurde sogar ASTA – Vorsitzender. In dieser Funktion musste ich natürlich auch Studentenversammlungen leiten. Theoretisch beherrschte ich die Versammlungsleitung, aber in der Praxis hatte ich natürlich Schwierigkeiten. Aber ich hatte immer gute Freunde die mich unterstützten, z.B. mich auf Wortmeldungen aufmerksam machten, die ich nicht wahrgenommen hatte. Peinlich wurde es dann, wenn mir zugeflüstert wurde „der Müller hat sich gemeldet“ und ich dann den Müller aufrief, aber genau in die falsche Richtung blickte. Man hat es mir nachgesehen. Solche Dinge habe ich seither immer wieder gemacht, bei Fachtagungen, Verbandskonferenzen und zuletzt als Vorsitzender der Gemeindeversammlung der Kirchengemeinde. Seit längerem mache ich es nicht mehr, da es immer sehr stressig war. Aber fast genauso stressig ist es für mich, zusehen zu müssen, wie Leute mit gutem Sehvermögen eine schlechte Versammlungsleitung machen.
Nach dem Studium, das ich fristgerecht und mit gutem Erfolg abgeschlossen habe, habe ich meinen Beruf auf zwei Stellen, die erste 5 und die zweite 25 Jahre ausgeübt. Sicher hatte ich auch ein wenig Glück, da ich in beiden Fällen einziger Bewerber war. Dies war in den Sechziger- und Siebzigerjahren nicht außergewöhnlich. Wie es ausgegangen wäre, wenn ich Konkurrenz gehabt hätte, weiß ich nicht.
Im Lauf der Jahre musste ich erkennen, dass jene Direktorin, die mich nicht an die Schule lassen wollte, mit ihrem Argument gar nicht so unrecht hatte. Denn neben den vielen Kleinigkeiten, die unsereinem das Leben schwer machen, gab es einen gravierenden Punkt, nämlich das Wiedererkennen von Personen und die Wahrnehmung der Mimik des Gegenübers im Gespräch. Besonders letzteres habe ich doch als großen Mangel in meiner Arbeit empfunden. Dies bedeutete, dass ich in Beratungsgesprächen nur auf da Gesagte, bzw. auf die Art des Redens stützen, nicht aber die Mimik und die Haltung in die Bewertung mit einbeziehen konnte. Während diese Sache nur für mich selbst ein Problem darstellte, hatte ersteres eine weit größere Tragweite. Mit den Klienten hatte ich es so geregelt, dass Besucher mir von meiner Sekretärin namentlich angekündigt wurden, solche, die häufig oder regelmäßig kamen habe ich sehr schnell an der Stimme erkannt, und neue, erstmalige, musste ich ja nicht erkennen. Wesentlich schwerer war es mit Mitgliedern von Gremien, oder Kollegen und Kolleginnen, die ich nur einige Male im Jahr auf Konferenzen gesehen habe, und dies häufig auf Distanz und bei ungünstigen Lichtverhältnissen. Da war es dann gelegentlich so, dass ich mit jemand über den Tisch einen Disput geführt habe, aber draußen auf dem Flur habe ich ihn oder sie nicht wieder erkannt, wenn er oder sie nichts gesagt hat. Manches Mal hat mir auch die Kleidung geholfen, aber bei ungünstigem Licht ist diese oft auch nicht klar auszumachen. Das Computer Zeitalter ist beruflich glücklicherweise an mir vorübergegangen.
Meinen Beruf habe ich sehr gerne und engagiert ausgeübt und wie ich aus vielen Reaktionen schließen kann, auch eine gute und anerkannte Arbeit geleistet. Aber es war einfach stressig und belastend. Und ich bin froh, zwischenzeitlich im Ruhestand zu sein, obwohl vor allem die zuletzt beschriebenen Probleme auch im Privatleben relevant sind. Aber hier kann ich es gelassener nehmen.
Bleibt noch nachzutragen, dass ich am Ende meines Studiums geheiratet habe. Wir haben zwei Kinder, beide nicht betroffen, und dafür bin ich sehr dankbar.
R.L. 2001