Als ich an dieses Thema heranging, machte ich mir zuerst Gedanken darüber, was das Wort „Grenze“ eigentlich bedeutet. Dabei fiel mir die Amerikanerin Hellen Keller (1880 – 1968) ein. Sie wurde mit 19 Monaten blind und taub, was sie jedoch nicht davon abhielt, zu studieren, den Dr. phil. mit Auszeichnung zu machen und eine weltbekannte Schriftstellerin zu werden. Wo waren Hellen Kellers Grenzen?
Grenzen, finde ich, haben im Zusammenhang mit einer Behinderung eine sehr relative Bedeutung; sie sind nichts Absolutes.
Ich möchte nicht über die rein physikalischen Grenzen sprechen, die es zweifellos gibt. Wenn man das „Glück“ hat wie ich, von Geburt an schlecht zu sehen und nicht erst später damit konfrontiert zu werden, lernt man von klein auf ganz selbstverständlich, wie das Laufen und Sprechen, sein Handikap weitgehendst auszugleichen. Ich möchte über die Grenzen sprechen, die uns von außen, durch unsere Mitmenschen, also durch die Öffentlichkeit gesetzt werden. Es sind oft Vorurteile oder Ängste unserer Mitmenschen, die Grenzen für uns Sehbehinderte errichten, die aber verschwinden, wenn man darüber spricht bzw. wenn man sie nicht akzeptiert.
Bei der ersten Grenze, die mir gesetzt wurde, war ich noch im Babyalter. Ein Augenarzt eröffnete meinen Eltern, dass ich nie einen ordentlichen Beruf werde ergreifen können, und dass sie mich am Besten im Laufstall ließen, denn das sei der Raum, in dem ich mich wohl fühlen würde. Zum Glück akzeptierten meine Eltern damals diese Grenze nicht, sondern behandelten mich genau so, wie sie auch meine ältere Schwester, die nicht vom Albinismus betroffen ist, behandelt haben.
Im Kindergarten meldeten sie mich an, und erst nach ein paar Tagen sprach meine Mutter mit der Kindergärtnerin über mein schlechtes Sehvermögen. Die Kindergärtnerin hatte bis dahin die Erfahrung gemacht, dass es mit mir als sehbehindertem Kind, das nur über eine Sehleistung von 10 % verfügt, keinerlei Probleme in der Gruppe gab. Es war nie die Rede davon, dass die Kindergärtnerin mit einem sehbehinderten Kind in der Gruppe überfordert wäre und eine zweite Kraft eingestellt werden müsste, wie ich es heute immer wieder höre, und was sogar bis zur Ablehnung der Aufnahme eines sehbehinderten Kindes führt. Dies ist eine Grenze, die dem Betroffenen und den Eltern von außen gesetzt wird, die es eigentlich nicht geben sollte.
Meine ersten fünf Schuljahre verbrachte ich an einer Waldorfschule, weil meine Eltern doch etwas Bedenken hatten, ob man an einer Regelschule Rücksicht auf mich nehmen würde. Über die Waldorfschule möchte ich hier nicht viel erzählen, nur soviel, dass ich am Ende der 5. Klasse noch nicht richtig schreiben konnte und es mir totlangweilig war.
Mit intensiver Nachhilfe schaffte ich den Sprung in die 5. Klasse eines staatlichen Gymnasiums. Dort waren die Grenzen, die mir gesetzt wurden, relativ eng bzw. wurden gleich durch Gespräche von meinen Eltern mit den Lehrern abgebaut. Mit vergrößerten Fotokopien, die mir die Lehrer statt schlecht lesbarer Blaupausen gaben, und einer Zeitverlängerung bei den Klassenarbeiten war mir schon sehr geholfen. Schwieriger war es oft, die Grenzen bzw. Vorurteile, die die Eltern meiner Mitschüler und Mitschülerinnen in ihren Köpfen hatten, zu beseitigen. Sätze wie – ich zitiere frei – „man weiß ja nie so genau, ob alles stimmt, was ein sehbehindertes Kind sagt, was es sieht und nicht sieht“, waren schon harte emotionale Grenzen, die den Aufbau von Vertrauen und Glaubwürdigkeit schwer machten.
Während meines Physikstudiums gab es eigentlich keine Grenzen, weder durch Kommilitonen noch durch Professoren. Ganz im Gegenteil, sie versuchten auch die rein physikalischen Grenzen so weit wie möglich abzubauen. So schaffte die Universität S. extra für mich einen 21 Zoll Monitor für meine Diplomarbeit an, und das Institut für Theoretische und Angewandte Physik, an dem ich meine Diplomarbeit machte, kaufte einen neuen PC und das Betriebssystem WINDOWS, mit dem meine Vergrößerungs-Software läuft. Auch eine Jalousie, mit der ich die Lichtverhältnisse im Raum besser regeln konnte, wurde für mich installiert.
Nun bin ich auf Arbeitsuche, und sicherlich werden mir auch dabei wieder Grenzen in den Köpfen stoßen, mit denen ich mich wieder auseinander zu setzen habe.
Grenzen gibt es natürlich auch beim ganz alltäglichen Umgang mit meinen Mitmenschen. Es ist auch schwierig zu verstehen, dass man jemanden an einem Tag schon aus 10 Meter Entfernung erkennt und an einem andern Tag an ihm vorbeigeht, ohne ihn zu erkennen und zu grüßen. Für das Wiedererkennen von Personen sind viele Faktoren wichtig, wie zum Beispiel:
- Ist es sehr wahrscheinlich, dass man der betreffenden Person hier begegnen kann?
- Weiß man, was die Person heute an hat?
- Wie sind die Lichtverhältnisse?
- Hört man ihre Stimme?
Menschen, die man nur flüchtig kennt, kann und möchte man auch nicht gleich über all die Missverständnisse, die durch das nicht Wiedererkennen oder nicht Sehen entstehen können, aufklären. Deshalb kann es schon leicht passieren, dass man schnell als unhöflich angesehen wird, wenn man eine Person, die man kennt, nicht grüßt.
Ein weiteres Problem, das für die Öffentlichkeit schwierig zu verstehen ist, besteht darin, dass man uns unsere Behinderung in der Regel nicht ansieht. 10 % Sehleistung stellen sich viele als „fast blind“ vor und können unsere Mobilität und unser Sehvermögen nicht miteinander vereinbaren. Zwischen 10 % und 0 % liegen aber Welten, vor allem, wenn man mit der Behinderung aufgewachsen ist. Selbst mit noch geringerem Sehvermögen bemerkt die Umwelt die Sehbehinderung meistens nicht. Nur einige Mitmenschen erkennen, dass wir unsere Umwelt unbewusst täuschen; die anderen nehmen uns die geringe Sehleistung einfach nicht ab.
Grenzen werden uns Sehbehinderten überraschender Weise aber auch von Hilfsmittelherstellern gesetzt, die oft dem technischen Stand weit hinterher hinken, und von Krankenkassen, die z. B. normale Videokameras, die um eine Klasse besser und viel billiger sind als spezielle Hilfsmittel, nicht bezahlen.
Aber auch bei Ärzten und Optikern habe ich hin und wieder das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Sie meinen, besser zu wissen, welches Hilfsmittel für mich richtig ist und welches nicht. Seit 31 Jahren lebe ich nun mit der Sehbehinderung, habe Abitur gemacht und Physik studiert und ich frage mich nun, wer für mich in der Beurteilung von Hilfsmitteln kompetenter sein kann als ich selbst? Natürlich muss man sich ständig informieren, auf Hilfsmittelausstellungen gehen, um gute Neuentwicklungen nicht zu verschlafen. Oft sind es aber auch gerade nicht die klassischen Hilfsmittel, die mindestens genauso wichtig sind. Für mich war und ist dies das Fotokopiergerät zu Hause, mit dem ich alle Vorlagen vergrößern kann.
Mir ist bewusst, dass es durchaus auch Sehbehinderte gibt, die sich überfordert fühlen und nicht in der Lage sind, ein Hilfsmittel auszuwählen, besonders dann, wenn sie erst spät in ihrem Leben sehbehindert wurden und dadurch keine Erfahrung im Umgang mit Hilfsmitteln sammeln konnten. Was ich mir allerdings wünschen würde ist, dass Ärzte und Optiker ein Gespür dafür entwickeln, mit wem sie bei einer Beratung sprechen.
K.L. 2000