Angehörigen

Am 28. Januar 1997 wurde unser Sohn J. geboren. Schon während der Geburt war die Hebamme von den „hellen“ Haaren sehr begeistert. Auf der Station sprachen sie alle nur von dem kleinen „Wikinger“. Wir waren einfach nur glücklich, ein gesundes Kind in den Armen zu halten. Was spielt da die Haarfarbe für eine Rolle? Auch die Kinderärztin bestätigte uns, es sei alles in Ordnung.

Nach 2 Tagen stellte sich die gewöhnliche „Baby-Gelbsucht“ ein. Wir wollten unserem Sohn etwas Gutes tun und stellten den Stubenwagen vor das Fenster; draußen schien doch so schön die Sonne. Schon da drehte er sein Gesicht zur dunklen Seiten. Komisch, dachten wir. Mehr aber auch nicht.

Wir verbrachten die ersten anstrengenden Wochen glückselig mit unserem Wonneproppen. Nur eins fehlte mir als Mutter: der Augenkontakt ! Also kaufte ich nach 4 Wochen eine schöne rote Maus. Ich dachte, rot kann man doch super sehen. Aber J. reagierte immer noch nicht. Als er 6 Wochen alt war, mussten wir zum Kinderarzt und ich fragte, wann denn die Kinder mit dem „Sehen“ beginnen. Mein Kinderarzt beruhigte mich, indem er meinte, dass das in den nächsten Wochen schon anfangen werde. Er hatte recht, denn mit 8 Wochen begannen seine Augen „hin- und herzupendeln“. Da wir keinerlei medizinische Kenntnis in dieser Richtung besaßen, ging uns immer noch kein Licht auf. Meine Freundin (gelernte Kinderkrankenschwester) schickte mich mit 10 Wochen wegen des „Nystagmus“ behutsam zum Kinderarzt. Aber als Mutter war mein Unterbewusstsein direkt wie angespitzt und vor lauter Aufregung wäre ich am liebsten sofort zum Arzt gefahren.

Dieser bestätigte den Nystagmus bei J., aber die Ursache für den Nystagmus konnte er nicht feststellen. Er empfahl uns bis zur nächsten U-Untersuchung einen Augenarzt zu konsultieren. Kurzerhand bin ich nach dem Kinderarzttermin direkt zum Augenarzt gefahren und nach etwas Wartezeit wurde unser Sohn untersucht. Hier hatten wir Glück, wie wir im Nachhinein wissen, denn dieser Arzt nannte uns sofort seine Vermutung „Albinismus“. Leider konnten wir nichts damit anfangen. Irgendwie hat er auch keine Panik vermittelt, sondern uns an unsere hiesige Augenklinik vermittelt.

Bis dahin waren mein Mann und ich übereingekommen, dass wir erstmal niemanden, auch nicht unseren Eltern, davon erzählen wollten. Wenige Tage später saßen wir in der Augenklinik und der „Verdacht“ wurde bestätigt. Unser Sohn hat „Albinismus“. Für uns brach eine Welt zusammen !!! Für mich noch mehr als für meinen Mann. Viel haben wir nicht mehr von dem Arzt mitbekommen: „sehr wahrscheinlich braucht J. keine Brille und Probleme mit seiner Haut wird er auch nicht mehr haben als andere hellhäutige Menschen“. Der Rest rauschte irgendwie an uns vorbei.

Schon wenige Wochen später wussten wir, dass diese ärztlichen Aussagen -vorsichtig ausgedrückt- nicht unbedingt wissenschaftlich fundiert waren. Bei uns blieb jedoch der Schock ! Wir brauchten Tage bis wir unsere Eltern von J. Erkrankung erzählen konnten. Noch dazu kam, dass wir ihn nicht in die „Behindertenschublade“ bringen wollten und daher unsere Eltern zu Stillschweigen verpflichteten.

Nach einer längeren Zeit der Traurigkeit habe ich mich gefragt, wie es jetzt weiter gehen soll. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, wagte ich den Angriff nach vorn. In der „Eltern“-Zeitung gibt es eine kleine Rubrik „Eltern behinderter Kinder suchen Kontakt“. Leider fand ich nie die Erkrankung „Albinismus“. Also habe ich mich direkt an die Redaktion gewandt, die mir nur eine Telefonnummer aus der Nähe von Berlin nennen konnte. So habe ich mein erstes Telefonat mit Frau H. geführt. Sie leitete mich an Frau K. (damals 1. Vorsitzende von NOAH) weiter. Und eines Morgens habe ich so über eine Stunde mit Frau K. telefoniert. Danach ging es mir um Längen besser. Nur die einfachen Erzählungen von Ihren Kindern, natürlich auch von anderen Familien, gaben mir ganz viel Mut und vor allem Zuversicht. Ich glaube, es war mit eine der wichtigsten Stunden in unserem jungen Familienleben.

Und nun war es soweit: Ich hörte zum ersten Mal etwas von der Selbsthilfegruppe NOAH. Nach kurzer Überlegung war für uns klar: Wir wollen Mitglied werden. Schnell schickten wir unsere Anmeldung los und eifern selbst heute noch jeder Arche entgegen. Aber damit war immer noch nicht die medizinische Betreuung für J. geklärt. Sehr schnell erfuhren wir von einer Ärztin irgendwo im Süden Deutschlands -Frau Dr. K. in H.-. Wir schauten in den Atlas und ließen uns zunächst von der Entfernung abschrecken. Schade ! Aber es gab noch das Telefon. Nach ein paar Telefonaten bekamen wir von Frau Dr. K. einen sehr aufmunternden Brief, indem sie uns für den weiteren Informationsaustausch NOAH empfahl.

So kamen wir langsam „auf Trab“. Irgendwie machte uns das Engagement von Frau Dr. K. neugierig. J. war 1 ½ Jahre alt, als wir endlich das erste Mal zu ihr nach H. gefahren sind. Wir waren sehr positiv überrascht. Super freundlich war und ist sie und ihr Orthoptistinnen-Team. Frau Dr. K. gefiel auch unserem Sohn gut, auch wenn kleine Mäuse natürlich Vorbehalte gegenüber Ärzten haben dürfen. Wir waren und sind von ihrem Wissen und der Souveränität bzgl. Albinismus beeindruckt. Ein kleiner Wermuts“tropfen“ eines Besuches in H. ist für J. bis heute noch das „Tropfzimmer“. Dies alles hat uns so überzeugt, dass wir mit J. seitdem zweimal jährlich dort zur Untersuchung fahren. Denn bis jetzt haben wir hier in unserer Umgebung noch keinen Augenarzt gefunden, für den J. kein „Exot“ ist, den es ausführlich zu erforschen gilt.

Wie aufgeregt war ich vor unserem 1. Regionaltreffen NRW in B. Diese erste Gruppenerfahrung mit vielen anderen Betroffenen und deren Eltern war nicht nur für mich überwältigend. Es war der Beginn vieler herzlicher Kontakte, die ungebrochen bis heute andauern und mir und meiner Familie (auch unseren Eltern) Kraft geben.

Wenn ich Ärzte besuche, nehme ich immer Material von NOAH mit und betreibe so nebenbei „Aufklärung“. Mich freut es dann besonders, wenn dann (wie es öfter geschieht) Ärzte bei mir anrufen und -bezogen auf einen kleinen Patienten- den Verdacht bzgl. Albinismus äußern und um Rat fragen. Was ich tun kann, ist, den Eltern die (selbsterlebte) Odysee durch die zum großen Teil uninformierte Ärzteschaft etwas zu verkürzen und Neu-Mitgliedern oder solchen, die es noch werden wollen, Mut machen kann. Daneben möchte ich im Rahmen meiner Möglichkeiten die Probleme und Bedürfnisse der Betroffenen bei Behörden, Schulen und in der Öffentlichkeit bekannter und bewusster machen.

Wenn man es insgesamt betrachtet, nimmt NOAH mittlerweile einen ziemlich großen Platz in unserem Leben ein. Die gemeinsame Sache auch für unseren Sohn nach vorne zu bringen, mit anderen Betroffenen bzw. deren Eltern zu sprechen und von vielen Seiten positives Feedback zu bekommen ist unser Motor. Es macht einfach Spaß !

Unser Sohn ist übrigens inzwischen 6 Jahre alt und hat sich prächtig entwickelt. Er ist ein überaus fröhliches und wissbegieriges Kind, das mit Hilfe vielfältiger Kompensationsmechanismen anderen Menschen sein Handicap gar nicht offenbar werden lässt, ohne dieses jedoch zu verschweigen. Mittlerweile liegt die Kindergartenzeit schon fast hinter ihm. Im Sommer wird er eine Regelgrundschule besuchen. Sein Wunsch ist es, endlich lesen, schreiben und vor allem rechnen zu lernen.

Viele große Ängste und Befürchtungen, die Eltern betroffener Kinder ganz am Anfang beschäftigen, verkleinern sich – rückschauend betrachtet. Ich glaube, wir können gemeinsam ganz sicher sein:

Unsere Kinder werden alle ihren Weg gut meistern.

C.K. 2003